FARBNABEL DER WELT

Der Louvre, der Vatikan und die renommiertesten Museen der Welt restaurieren mit Pigmenten aus dem Allgäu. Die Aichstettener Farbmühle der Familie Kremer liefert Einmaliges und betreibt Dependancen – auch in New York.

David Kremer vor einer Lore mit schweren Mineralblöcken – ein Beispiel für Material, das in der Farbmühle zermahlen und für künstlerische Zwecke zu Pigmenten pulverisiert wird. / Wolfgang Strobl /

Beschaulich-verschlafen ist es nicht nur an diesem sonnigen Frühlingstag im Illerwinkel. Erstes Grün spitzt vorsichtig aus den braunen Ackerfurchen. Der tiefblaue Himmel über Lautrach, Legau und Kronburg spannt seinen luftigen Bogen hinüber ins Württembergische. Memmingen ist nur eine gute Viertelautostunde von Aichstetten entfernt – und doch eine andere Welt. „Ich bin dort zur Schule gegangen“, erzählt David Kremer, „und war als einer der wenigen Württemberger immer ein Exot.“ Noch heute spürt der 39-Jährige, wie weit Bayern und Württemberg in den Köpfen der Menschen doch auseinanderliegen, und erinnert sich an einen Vortrag, den er vor nicht allzu langer Zeit in Memmingen über seine Profession gehalten hat: Pigmente und Farbe. „Dass Aichstetten praktisch hier um die Ecke liegt, wussten viele einfach nicht.“

Daran hat sich David Kremer lange gewöhnt, ebenso wie an die erstaunten Gesichter, wenn er wie selbstverständlich erzählt, dass Aichstetten für namhafte Künstler und die Restauratoren der renommiertesten Museen wie des Louvre, der Vatikanischen Museen oder des Museum of Modern Art so etwas ist wie der Farbnabel der Welt. Denn in der Farbmühle der 2.800-Seelen-Gemeinde entsteht Einzigartiges: historische Farbpigmente.

 

Für Restauratoren ist Aichstetten so etwas wie der Farbnabel der Welt.

 

Begonnen hat alles mit der Farbe Blau: Dr. Georg Kremer, promovierter Chemiker, erhält 1970 von einem befreundeten englischen Restaurator eine Anfrage. Der sucht für ein Deckengemälde in einer Kirche nach „Smalte“, einem intensiven Blauton, der zu dieser Zeit nirgendwo erhältlich ist, obwohl die Farbe – oder besser: das Pigment – bereits im alten Ägypten bekannt und zur Zeit des Barock eine Hochphase erlebt hatte.

Georg Kremer stellt Nachforschungen an, kommt der Rezeptur auf die Spur, brennt Kobalterz, Quarzsand und Pott-asche zu federleichtem, tiefblauem Kobaltglas und mahlt es bereits nach wenigen Wochen zu kleinsten blauen Farbpigmenten – die Geburtsstunde des heutigen Unternehmens. Als Ein-Mann-Betrieb in Rottenburg am Neckar beginnt Georg Kremer 1977, seine ganz eigene Farbwelt zu schaffen und ständig zu erweitern. Er forscht nach alten, vergessenen Pigmenten, recherchiert in Schriftquellen, sammelt überlieferte Rezepturen regional eingesetzter Farben, begibt sich auf die Spuren von Materialien und Stoffen, die für die Herstellung von Farben genutzt werden – und stellt selbst mehr und mehr Farbpigmente her. Mit seiner Leidenschaft zur Historie, ständiger Suche und seinem chemischen Wissen kann er nach zwei Jahren bereits mehr als 100 verschiedene Pigmente anbieten. 1984 erwirbt die Familie dann die alte Getreidemühle in Aichstetten und zieht ins Allgäu.

 

Kremer forscht nach vergessenen Pigmenten

 

„Man muss sich vorstellen, das war alles Grau hier, alles zerfallen, die meisten Räume waren nicht nutzbar, weil die Mühle zuvor über 30 Jahre leer stand“, erinnert sich David Kremer beim Gang über das Gelände direkt an der Aitrach. Er dreht sich eine Zigarette, zündet sie an, schaut hinüber auf das rot-gelbe Gebäudeensemble, das sein Vater entkernt und wieder aufgebaut hat, als er gerade mal ein Jahr alt war. Er schmunzelt, als er sich an diese Zeit zurückerinnert: „Anfangs waren zwei bis drei Mitarbeiter da. Da wurde bei uns auch Mittag gegessen und Kaffee getrunken. Als es dann 15 Mitarbeiter waren, hat meine Mutter gesagt: ‚Das geht jetzt nimmer, jetzt hört das auf mit dem täglichen Kaffee‘. Meine Eltern, meine zwei Schwestern und ich haben mit der Firma, mit den Farben und mit den Themen beim Frühstück, beim Mittag- und Abendessen gelebt.“

 

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in der top schwaben Ausgabe Nr. 77