SPIEL MIT DEN SEHGEWOHNHEITEN

Das „rote Haus“ in Illerbeuren wurde zu den „50 besten Einfamilienhäusern“ Deutschlands 2020 gekürt. Architekt Nägele spielt mit markanter Farbgebung und ungewöhnlicher Asymmetrie.

Markant-selbstbewusste Erscheinung: In Nachbarschaft zum elterlichen Bauernhof entstand anstelle der Scheune das neue Wohnhaus. / Nicolas Felder /

Was ist es, das ein Haus besonders macht? Sind es allein Form und Farbe? Oder ist es die Idee, der Charakter, der in der Gestalt eines Gebäudes sichtbar wird? Für den Callwey-Verlag, der jedes Jahr die „50 besten Einfamilienhäuser“ im deutschsprachigen Raum sucht, ist das in der Ausschreibung zu seinem Wettbewerb ganz klar: „Das Haus des Jahres überzeugt durch höchste architektonische Qualität, ist einzigartig und stimmig in Form, Raumgestaltung und Materialität, wurde individuell für seine Bewohner entworfen und setzt sich mit seinem städtischen oder ländlichen Umfeld angemessen auseinander.“

Genau diese Kriterien sind es, die das sogenannte „Rote Haus“ in Illerbeuren ausmachen und den Bauherren wie auch dem Architekturbüro von Alexander Nägele die begehrte Auszeichnung bescherte, eines der besten 50 Häuser 2020 entworfen und gebaut zu haben. Die äußere Form mit ihrer charakteristischen Boden-Deckel-Schalung nimmt vorgefundene Formen und Typologien auf, transformiert die vertrauten Bilder traditioneller Bauweisen durch überraschende Variationen und schafft so ein zeitgemäßes Wohnhaus auf dem Lande. Soho-Architekten, so der Name des Memminger Architekturbüros um Alexander Nägele, spielte mit den örtlichen Gegebenheiten, nahm Bezug auf unmittelbar Vorhandenes und Anleihen aus der näheren Umgebung. „Wer sich mit traditionellem Bauen auf dem Land beschäftigt“, so Alexander Nägele, „der kann feststellen, da geht es selten geradlinig zu.“ So bleibt der Blick von der Straßenseite gleich zweimal hängen, wenn man auf das Gebäude schaut. Allein schon der Farbe wegen, die sich sogar über das Dach aus Alu-Trapezblech bis zum First hoch zieht – und dann wegen der Form: die Traufhöhe des acht mal zehn Meter großen Gebäudes steigt von links nach rechts deutlich an und schafft eine ungewöhnliche Asymmetrie, die gut in das Bild Alexander Nägeles passt, das er von zeitgenössischer Architektur hat. „Es ist ein Spiel mit den Sehgewohnheiten. Überraschendes bleibt hängen“, sagt er, „und belebt das kollektive Gedächtnis. Das interessiert mich, damit spielen wir, es verschafft Freiheit.“

 

„Auf dem Land geht es selten geradlinig zu.“

Alexander Nägele

 

Eine Freiheit, die sich die Soho-Architekten auch bei der Farbgebung nahmen. Die rote Farbe, Ochsenblutrot, fand Nägele an einem Haus rund 200 Meter weiter über der Iller in Lautrach. Dort lebte Sägewerksbetreiber Dieter Dorn (1938 – 2011), der nach der heute weithin bekannten „Dorn-Methode“ Fehlstellungen der Wirbelsäule und des Beckens korrigierte. Das markante Rot sehe man im Illerwinkel öfter, auch an Fensterläden oder im Fachwerk bei Höfen – und auch im Schwäbischen Bauernhofmuseum Illerbeuren, das sich ganz in der Nähe befindet.

Doch Form und Farbe sind für Alexander Nägele nur die augenfälligsten Punkte, die seinen Entwürfen inne wohnen. Ihm geht es auch darum, Ressourcen zu schonen, Flächenfraß und Leerstände zu vermeiden und um Nachhaltigkeit: Aus Sicht der Architekten war eine Sanierung und Anpassung des vererbten Bauernhauses an aktuelle Wohnbedürfnisse der Bauherren mit den vorhandenen finanziellen Mitteln nicht sinnvoll zu bewerkstelligen. Vor diesem Hintergrund gab es den wirtschaftlich motivierten Entscheid, das bestehende Wohnhaus zu erhalten und daneben, anstelle eines alten Lagerschuppens, ein neues Haus zu bauen.

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in der top schwaben Ausgabe Nr. 73