KOLOSSALE WERKE UND MEIST LÄSTERLICHES REDEN

Zum 125. Geburtstag des Augsburger Dichters Bertolt Brecht

Brecht und Paula Banholzer, genannt Bi (ca. 1918). Gemeinsam hatten sie den Sohn Frank, geboren 1919. / Unbekannt, Coloration: Bernd Hohlen /

Es ist das Jahr 1913, der 15-Jährige Bertolt Brecht führt Tagebuch: Sonntag, 18. Vormittags im Kunst-Verein mit G. Mein Herz ist sehr rebellisch. Ich mag nicht immer mit Klagen die andern belästigen! – Nachmittags zu Gehweyer, wo wir Chopin spielten und uns vergnügten. Abends heim. Die folgende Nacht war miserabel. Bis 11 Uhr hatte ich starkes Herzklopfen. Dann schlief ich ein, bis 12 Uhr, da ich erwachte. So stark, dass ich zu Mama ging. Es war schrecklich. Endlich schlief ich ein. Am andern Morgen—“. Was am anderen Morgen war, wissen wir nicht. Der nächste Eintrag ist vom 22. Juni 1913, Fronleichnam. Der verängstigte Bertolt notiert: In der Nacht hatte ich zuerst entsetzlich Herzklopfen, dann wurde der Schlag ganz leis und schnell. Papa wachte lange am Bett. Ich hatte Angst. Eine schreckliche Angst. Die Nacht war endlos! Das Kind aus gutbürgerlichem Hause in Augsburg hat Todesängste. Nicht nur in einer Nacht, in vielen. Das ist prägend. Als Bertolt 12 Jahre alt ist, versuchen seine Eltern, mit Kuraufenthalten die Not ihres Kindes zu lindern. Vergeblich. Die Fern-Diagnose dieses Leidens nennen wir „Herzneurose“. Angst vor dem Herztod, wegen psychosomatischer Phänomene. Brecht-Kenner und Verwalter seines Erbes hören es nicht gern, überlassen sein persönliches Leben lieber der spekulativen Grauzone, um seinen Mythos zu nähren. Dabei sind unfehlbare Genies langweilig. Der Mensch, der Nachgeborene will Verwerfungen, Widersprüche, sich reiben am Menschen und am Werk. Brecht’s Werk steht natürlich für sich, viel mehr als der Autor selbst. Als Brecht in frühen Jahren erkennt, dass er mit seinem Herze-Leid leben muss, wendet er sich seinen Dämonen zu, macht sie zu seinen Komplizen. „Ich kommandiere mein Herz“ heißt es nun von ihm. Eine Strategie, für die Psychologen den Terminus „Kontraphobie“ bereithalten. Sie kennzeichnet eine psychische Störung, die sich als ein permanentes Streben äußert, aufkommende Ängste durch besonders viel Mut, Wagnis und auch Rücksichtslosigkeit zu konterkarieren. Davon gibt es in Bertolt Brechts Leben einiges zu berichten. Kühnheit und Rücksichtslosigkeit aus Angst. Diese unschönen Tugenden bekommen die vielen Frauen in seinem Umfeld zu spüren. Mitarbeiterinnen, Ehefrauen, Liebesbeziehungen. Herzerfüllte Lyrik an vergangene Liebschaften werden schon einmal rüde gekontert. „Im Zustand der gefüllten Samenblase, sieht der Mann in jedem Weib Aphrodite“, schreibt Brecht unter das Gedicht „Die Erinnerung an die Marie A“. Von „Potenzphantasien“ ist im Zusammenhang mit Brecht die Rede und einer „demonstrativen Großmannssucht“.

Doch Brecht gehört zur seltenen Spezies der Genies, dessen irdisches Dasein sich dadurch auszeichnet, seinen Zeitgenossen und Nachgeborenen ein Werk zu hinterlassen. Kolossale Werke überragen meist lästerliches Reden, asoziale Handlungen und menschliche Schwächen. Kolossale Werke erheben sich über die irdische Fehlbarkeit. Nähern wir uns Brechts Verhalten gegenüber seinen Frauen und seinen Liebesverhältnissen dialektisch, mit Nachsicht und Ablehnung und wenden dazu ein, die Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber impliziert auch Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen. Damit binden wir seine Ängste ein und deuten sie als mitbestimmenden Antrieb seiner Handlungen. Wenn dann wenig Platz bleibt für soziales Verhalten, wissen wir, sein Herz wird kommandiert und für den erwachsenen Brecht gibt es nur diesen einen Fluchtweg. Lyrisch klingt das bei Brecht so: „… In meine leeren Schaukelstühle vormittags; setze ich mir mitunter ein paar Frauen; und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen; in mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“. (Aus dem Gedicht „Vom armen B. B.“)

 

 

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in der top schwaben Ausgabe Nr. 81