Für Schüler mit überdurchschnittlich schneller Auffassungsgabe gibt es spezielle Modellklassen – in Schwaben nur am Gymnasium bei St. Stephan
Oft fallen sie schon in der Grundschule auf. Wissen als Erste die Lösung und posaunen es hinaus. Verhalten sich ungeduldig, wenn es mit dem Unterricht nicht schnell genug vorangeht. Wenn sie Glück haben, erkennt die Lehrkraft früh, es mit einem hochbegabten Kind zu tun zu haben. Wie bei Anna. Ihre Lehrerin suchte in der dritten Klasse das Gespräch mit ihren Eltern: „Ich denke, Anna ist hochbegabt.“
Heute ist Anna 16. Sie kommt in die 11. Klasse des Gymnasiums bei St. Stephan in Augsburg. Dort lernt sie unter ihresgleichen: Schülerinnen und Schüler, die wegen ihrer überdurchschnittlich schnellen Auffassungsgabe hier sind. In jedem bayerischen Regierungsbezirk gibt es an je einem Gymnasium ein Kompetenzzentrum für Begabungs- und Begabtenförderung, an dem pro Jahrgang eine Modellklasse für Hochbegabte eingerichtet ist. St. Stephan ist ein solcher Leuchtturm in Schwaben. Eine Insel der besonderen Kinder, eine Elite unter sich? Schulleiter Alexander Wolf schmunzelt und winkt ab: „So ist das nicht, das sind nicht zwingend die Überfliegerklassen.“ Denn jeder Mensch habe seine Begabungen, die es „schülerorientiert“ zu fördern gelte. Zum Image „Überflieger“ sagt er: „Auch Hochbegabte können durchfallen oder im Abitur scheitern.“ Auch sie kommen in die Pubertät mit allem Drum und Dran. In der Modellklasse für Hochbegabte hätten die jungen Menschen aber das gute Gefühl, endlich am richtigen Ort zu sein, „wo die anderen so ticken wie ich“.
Bevor ihre Begabung erkannt wurde und sie die Förderung erhalten, die ihnen gerecht wird, haben einige der Modellschüler negative Erfahrungen gemacht. Sie stießen auf Ablehnung und Ausgrenzung. Manche bleiben unter ihren Möglichkeiten, stellen sich dümmer als sie sind, um nicht weiter als nervend bei Mitschülern und Lehrern aufzufallen. Ein Hochleister kann so zum Leistungsverweigerer werden, der absichtlich schlechte Noten schreibt und sich im Unterricht langweilt. Eine persönliche Katastrophe, aber auch ein Desaster für ein Land, das vom Rohstoff Bildung lebt.
Anna hatte Glück. Sie konnte nach der Grundschule in die Modellklasse übertreten – nach einem aufwändigen, mehrstufigen Auswahlverfahren, bei denen der klassische IQ nur einer von vielen Aspekten ist. Auch nach sechs Jahren unter Hochbegabten ist die Gymnasiastin aus dem Landkreis Augsburg weit davon entfernt, sich etwas darauf einzubilden. Sie ist durchaus selbstbewusst – und gibt sich gleichzeitig bescheiden. Sie würde sich selbst nicht einmal als hochbegabt bezeichnen, „schon gar nicht als elitär“. Und stellt fest: „Es gibt Intelligentere in der Klasse als mich.“ Die sportliche junge Frau meint es erkennbar so, wie sie es sagt. Sie wirkt normal und geradezu unkompliziert mit ihren besonderen Begabungen. Es fiel ihr von vornherein nur vieles leichter. Mit ihrem Sprachverständnis beeindruckte sie schon als Kind, vor ein paar Jahren stand sie als herausragende Teilnehmerin eines Vorlese-Wettbewerbs in der Zeitung. In naturwissenschaftlichen Fächern wie Mathe fliegt der auch musisch begabten 16-Jährigen (sie spielt Klavier und Blockflöte) nicht immer alles zu. „Da muss ich mich ranhalten.“ Gleichwohl: Schlechtere Noten als eine Zwei gibt es in keinem Fach. Anna (Lieblingsfach „Altgriechisch“) weiß, dass schulischer Erfolg auch für Menschen wie sie nicht mit einem Spaziergang zu erreichen ist. „Wer die Modellklasse für Hochbegabte besucht, besitzt keinen Freifahrtschein.“
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in der top schwaben Ausgabe Nr. 83