DIE BÜHNE ALS ORT DER „GEISTERBESCHWÖRUNG“

Für Augsburgs Staatsintendant André Bücker ist Erinnerungskultur nicht statisch: „Erzählungen über Schicksale und historische Fakten verändern sich mit der Zeit“. Daher würden Themen der Vergangenheit auf ihre Bedeutung im Heute befragt.

Auf der Erfolgstreppe: André Bücker sieht den Zuschauerzuspruch „geradezu rekordverdächtig“. / Stefan Mayr /

Als im vergangenen Jahr die Berliner Regisseurin Nora Bussenius Grigori Fids Monooper „Das Tagebuch der Anne Frank“ am Augsburger Staatstheater inszenierte, war ihr eines wichtig: Die junge Jüdin, die im Februar 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb, „aus dem Museum zu befreien, in das sie manchmal reingesteckt wird“. Mit ihrer beeindruckenden Inszenierung ist es ihr gelungen, Anne Frank ins Heute zu holen, auch Denkanstöße und Bezüge zu aktuellen Krisen zu geben.

Die Oper war Teil eines Projektes, das vom Staatstheater mit dem vielsagenden Titel „Zukunft der Erinnerung“ überschrieben wurde: Anlässlich der 90 Jahre zurückliegenden Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gab es, neben passenden Bühnenwerken, ein Begleitprogramm mit Führungen zu Augsburger Erinnerungsorten, eine Ausstellung in Kooperation mit dem Jüdischen Museum sowie Workshops.

„Zukunft der Erinnerung“ nannten die Theatermacher das Projekt aus einem bestimmten Grund: Bald gibt es keine Zeitzeugen mehr, die von der nationalsozialistischen Diktatur berichten können, für junge Leute sind die Jahre zwischen 1933 und 1945 inzwischen weit entfernt. „Auch Erinnerungskultur ist nicht statisch, sondern im Wandel begriffen“, meint Intendant André Bücker, der seit 2017 am Augsburger Staatstheater ist. „Die Erzählungen über Schicksale und historische Fakten verändern sich mit der Zeit“, so Bücker, „und natürlich stellt sich uns die Frage, wie sich das mit heutigen Thematiken mischt, wenn wir Stücke neu interpretieren.“

In der Tradition Heiner Müllers könne man die Bühne als Ort der „Geisterbeschwörung“ verstehen: Dessen Stück „Die Hamletmaschine“ ist ein Beispiel dafür, wie ein klassischer Stoff mit Bezug auf die Gegenwart neu interpretiert werden kann, wie heraufbeschworene Geister sozusagen die Menschen von heute befragen können. „Theater kann“, so André Bücker, „Erinnerung lebendig halten und emotional transportieren, wenn es uns gelingt, die Zuschauerinnen und Zuschauer auch mit ihren Themen abzuholen.“ Soll heißen: „Themen, die in der Vergangenheit liegen, werden auf ihre Bedeutung im Heute befragt“, sagt André Bücker, „da findet auf der Bühne ein Transformationsprozess statt, der ist für junge Zuschauer im besten Fall ebenso faszinierend wie für ältere Menschen, die vielleicht nochmals einen neuen Blick auf das Geschehen bekommen.“

 

„Wir hören ständig zu viele Sätze wie ,Nie wieder‘ – das stumpft ab.“

 

Ohne Transformation droht die „Erinnerungskultur“ zudem auch in einer „Floskelkultur“ zu ersticken, befürchtet der gebürtige Niedersachse. „Wir hören ständig zu viele Sätze wie ,Nie wieder‘ – das stumpft ab“. Wichtiger sei es, von den Floskeln weg und ins pragmatische Handeln zu kommen und dabei auch „die kleinen Zusammenhänge“ sowie die lokale Geschichte und Struktur zu sehen. Deswegen besteht für Bücker Theaterarbeit in der Gegenwart aus zwei Säulen: „Das eine ist die Bühne, das andere ist die Arbeit in der Stadtgesellschaft.“ Begleitprogramme wie beispielsweise zu „Zukunft der Erinnerung“ seien daher nicht nur bloßes Beiwerk, sondern ein wichtiger Teil des Gesamtkonzeptes, quasi zur künstlerischen DNA des Hauses gehörend.

Das manifestiert sich mittlerweile am Staatstheater Augsburg an der Vernetzungsplattform „Plan A“, die gleichberechtigt neben den fünf Sparten Schauspiel, Musiktheater, Ballett, Konzert sowie der jüngsten, unter Bücker eingerichteten Sparte des Digitaltheaters, auf der Homepage genannt wird. Als Begegnungsplattform soll „Plan A“ den Austausch mit anderen Akteuren fördern, das Haus noch weiter öffnen – die Kooperation mit der Freien Szene, mit Initiativen, Vereinen, Institutionen in der Stadtgesellschaft gehört dabei ebenso zum Plan wie das Erarbeiten gemeinsamer künstlerischer Projekte und Aktionen.

Unter dem Titel „Do you care?“ wurde für die aktuelle Spielzeit das Schwerpunktthema der Sorgearbeit aufgegriffen, aber auch „Zukunft der Erinnerung“ läuft spielzeitübergreifend weiter sowie ein Erzählcafé für Zuwanderungs- und Arbeitergeschichten oder ein Projekt zur Bedeutung der Demokratie. „erzählen&erinnern“ und „ermutigen&ermöglichen“ sind dabei die Stichworte, unter denen die Aktionen gebündelt werden, Stichworte, die nach Bücker auch den Kultur- und Bildungsauftrag des Theaters umschreiben.

„Diese Möglichkeit der Teilhabe macht sicher auch Lust auf Kultur“, hofft der Intendant. Man stecke viel Energie in die Themen Inklusion vieler verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Integration des Hauses selbst in die Stadtgesellschaft. „Wir wollen ein offenes Haus für alle Menschen sein, unabhängig von Alter und Herkunft, vor allem wollen wir aber auch ein Haus sein, dass die vielen Facetten unserer Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern vor allem die Gesellschaft zu sich einlädt.“

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in der top schwaben Ausgabe Nr. 87