„WIR BEGRIFFEN NICHT, WAS DA PASSIERTE.“

Mit fast 90 Jahren begab sich der Bobinger Heinz Barisch auf die Reise in seine Heimat Zülz im heutigen Polen. Mit dabei war Regisseur Michael Kalb aus Dinkelscherben. Er drehte den Dokumentarfilm „Die letzten Zeitzeugen“ mit 37 Protagonisten aus dem Augsburger Land.

Heinz Barisch (vorn) und Filmregisseur Michael Kalb reisten für das Projekt „Die letzten Zeitzeugen“ gemeinsam in die Heimat der Familie Barisch. Die Reise und die Erlebnisse dort sind Teil eines Dokumentarfilms, der bereits im Bayerischen Fernsehen lief und mit dem Augsburger Medienpreis ausgezeichnet wurde. / Stefan Mayr /

Was bringt zwei fast neunzigjährige Männer und einen Dreißigjährigen dazu, sich gemeinsam auf eine mehr als achtstündige Autofahrt vom Landkreis Augsburg in das polnische Biała zu begeben? Es ist die Suche nach Erinnerungen, eine Spurensuche, einhergehend mit dem Wunsch nach Erklärungen.

Als der aus Dinkelscherben stammende Regisseur und Filmproduzent Michael Kalb mit den Vorarbeiten zu seinem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm „Die letzten Zeitzeugen“ beginnt, meldet sich nach einem Zeitungsartikel Heinz Barisch aus Bobingen bei ihm. Michael Kalb sucht Menschen aus dem Landkreis Augsburg, die noch aus persönlicher Sicht von ihrem Leben und dem Alltag im Augsburger Land im Nationalsozialismus und den Jahren danach erzählen können. Und Heinz Barisch, Jahrgang 1932, hat viel zu erzählen. Von einer „unbeschwerten, ja eigentlich gesegneten Kindheit“ in der oberschlesischen, historischen Stadt Zülz, die im März 1945 jäh unterbrochen wurde: „Wir Kinder spielten im Hof, als es plötzlich laut krachte und ein ohrenbetäubender Knall folgte.“ Die russische Bombe, die in unmittelbarer Nähe explodiert, versetzt das damals 12-jährige Kind in Todesangst: „Es war das bisher größte Angstgefühl in meiner Kindheit.“

Auf die Bomben folgt die Flucht: Für Dorothea Barisch, ihren jüngsten Sohn Heinz und zwei seiner Geschwister, Günther und Margot, sowie weitere Verwandte der Familie beginnt eine sechs Monate lange Odyssee, die sie unter anderem in die Tschechoslowakei, nach Thüringen, Sachsen und schließlich nach Bayern führt. Oft zu Fuß, ständig auf der Suche nach Essen, Schlafmöglichkeiten und nicht selten unter Lebensgefahr – und zumindest am Anfang immer begleitet vom Gedanken, man könne ja wieder zurück. Wie ein Symbol steht dafür bis heute Heinz Barisch ein Einweckglas mit großen Kirschen im Küchenschrank des Elternhauses vor Augen. Selbst als die Kinder am Tag der Flucht das Obst essen wollen, spricht sich die Mutter dagegen aus: Das habe zu warten, bis der Vater wieder aus dem Heimaturlaub komme. „Das zeugte von ihrem Optimismus, aber auch von unserer Unkenntnis, wie der Krieg tatsächlich verlief.“

Etliche Jahre wird es dauern, bis die Familie, mit Ausnahme des ältesten Sohnes Alfred, der 1942 in Russland fällt, wieder vereint ist: Vater Walter, während des Krieges einige Zeit als Soldat in Bobingen einquartiert, ist in einem amerikanischen Gefangenenlager, als seine Familie in Bobingen nach ihm sucht. Und über drei Jahrzehnte vergehen bis zum Fall des „Eisernen Vorhangs“, bis die Brüder Heinz und Günther die alte Heimat wiedersehen können. Aus dem deutschen Zülz war inzwischen das polnische Biała geworden. „Solche Erlebnisse prägen einen für das ganze Leben“, sagt der heute 92-jährige Heinz Barisch.

Die beiden Brüder Barisch gehören zu den insgesamt 37 Zeitzeugen aus dem Augsburger Landkreis – die meisten davon vor 1930 geboren – die Michael Kalb zu ihren Erinnerungen an den Alltag im Nationalsozialismus, an ihre Erfahrungen im Weltkrieg und zu der Zeit danach vor der Kamera interviewte. „Mich ließ der Gedanke nicht los, dass nur noch sehr wenige Menschen unmittelbar von dieser Zeit erzählen können“, sagt Michael Kalb, „ich wollte auch für mich selbst aus ihren Erinnerungen ein Bild davon gewinnen.“ Mit Co-Regisseur Timian Hopf stellte Kalb aus dem Videoarchiv, das über 50 Stunden umfasst, die prägnantesten Aussagen zusammen. „Die gemeinsame Reise mit den beiden Barisch-Brüdern nach Zülz wurde dabei zum Erzählfaden, der sich durch den Film zieht.“ Auch für Kalb, Jahrgang 1989, wurde die Fahrt in die Vergangenheit der beiden Brüder zu einem einmaligen Erlebnis: „Es war interessant zu sehen, wie unterschiedlich man einen Ort wahrnehmen kann.“ Wo er nur Gebäude und Baustellen sah, wurden bei den älteren Männern Kindheitseindrücke wach, die auch eine Ahnung von der Zeit und den Umständen geben, in der sie aufwuchsen.

So individuell die Geschichte der beiden Brüder sei, so sei sie dennoch auch exemplarisch für vieles, was junge Menschen im sogenannten „Dritten Reich“ und nach der Kriegskatastrophe erlebten, meint Kalb. „Als Kinder wurden wir bereits im Jungvolk auf das Hitler-Regime eingeschworen, wir erlebten die Aktivitäten da vor allem als Abwechslung“, so Heinz Barisch. Wenn jüdische Gefangene aus Auschwitz durch die Zülzer Innenstadt getrieben wurden, war der Anblick für die Kinder zwar erschreckend, „aber wir begriffen nicht, was da passierte.“ Vertreibung und Flucht waren ein brutaler Einschnitt – im Gegensatz zu vielen anderen Vertriebenen gelang der Familie der Neuanfang in Bobingen jedoch recht gut. „Unser Glück war sicher auch, dass wir nicht in einem Auffanglager für Vertriebene landeten, sondern zunächst in einem Behelfsheim, das für ausgebombte Augsburger gedacht war“, erinnert sich Heinz Barisch heute. Seine Familie habe vor allem Hilfsbereitschaft und Unterstützung erlebt, auch dadurch gelang die Integration relativ rasch. Nicht allen ging es ebenso, wie die Zeitzeugen-Aussagen im Film deutlich machen. Schnell wurde man in Bobingen heimisch, aber die Sehnsucht nach Zülz blieb. Heinz Barisch fasst es in seiner eigenen Formel zusammen: „Zülz ist Heimat, in Bobingen bin ich daheim.“

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in der top schwaben Ausgabe Nr. 87